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Michael von Brück:

Medizin im Kontext der Kulturen
Kulturen sind Werte- und Symbolsysteme, die sich historisch entwickeln und über längere Zeiträume hinweg Stabilität aufweisen. Kulturen sind örtlich geprägt, d.h. sie weisen zwar anthropologische Universalien auf, lokalisieren und deuten diese aber in je spezifischen Kontexten in Beziehung zu jeweils besonderen Umweltbedingungen und anderen Kulturen. So sind zwar Menschen medizinisch im Bereich der Physiologie und der Anatomie universal fast identisch, was aber Gesundheit bzw. Krankheit sei und wie die medizinischen Theorie und Praxis aussehen solle, ist kulturell bedingt, d.h. die Folge von Übereinkünften, die in langen kulturellen Entwicklungen durch Kommunikations- und Erziehungsprozesse herausgebildet und zu kaum hinterfragten gültigen Standards erhoben werden.

Die traditionellen Kulturen sind durchgängig von den Religionen geprägt. Diese wiederum sind abhängig von allgemeinen Erfahrungen, die mit der Geographie, dem Klima und der Sozialstruktur der jeweiligen Gesellschaften zu tun haben. So etwa ist für die religiöse Interpretation der Welt das Verständnis von Zeit ganz wesentlich, denn es prägt die Werte, die eine heilige Zeit von gewöhnlicher Zeit, Zeitabläufe, individuelle wie kollektive Ziele des Handelns usw. unterscheiden lassen. Zeitmuster aber sind geprägt von den Rhythmen der Natur und der Jahreszeiten, vom Wechsel der Regen- und Trockenzeit usw. die in verschiedenen Klimazonen bekanntlich unterschiedlich sind. Ob eine Religion in der Wüste oder im Dschungel, in einer Flusszivilisation oder im Hochgebirge, im Monsunklima oder in gemäßigten Klimazonen entstanden ist, prägt ihr Verständnis von Welt und ihre Wertestruktur, die dem Menschen Orientierung vermittelt, unterschiedlich. Ebenso sind die Sozialisationsbedingungen nicht überall gleich: nomadische Kulturen oder die Rituale sesshafter Ackerbauer, Stadtkulturen oder über größere Bereiche ausgreifende Imperien haben das Menschenbild, das Welt bild und das Gottesbild - je gegenseitig voneinander abhängig - unterschiedlich beeinflusst.

Die Vielfalt und die Möglichkeiten der Kulturen, die Deutungspotentiale des Menschseins und Anpassungen an veränderte Lebensbedingungen erschöpfen sich also nicht, wenn man nur eine Kultur betrachtet und diese zum humanen Standard erhebt. Ganz im Gegenteil, wenn man begreifen will, zu welchen Entwicklungsleistungen der Mensch fähig ist, muss man die Vielfalt des Menschlichen in Geschichte und Gegenwart studieren, um Potentiale und ungedachte Möglichkeiten für die Zukunft mobilisieren zu können. Das trifft für Religionen und Sprachen, für wirtschaftliche und politische Systeme ebenso zu wie für die medizinischen Symbolsysteme und Praktiken.

Fast alle alten Kulturen betrachten Medizin, d.h. die Anschauung vom körperlichen und seelischen Befinden des Menschen und die Möglichkeiten des gezielten Eingriffs zur Verbesserung und Gesundwerdung im Falle von Störungen, im Kontext sozialer Systeme und spiritueller Balance. Zu den sozialen Systemen gehören oft nicht nur die Menschen der nächsten Umgebung, sondern die gesamte Gesellschaft und die Geister der nicht mehr Lebenden, d.h. das soziale Universum umfasst die Umwelt bis in geistige, sinnlich nicht wahrnehmbare Bereiche, nicht selten auch die Tiere und Pflanzen. Medizinisches Wissen bedeutet demnach, die Faktoren zu studieren, die zu Unausgewogenheit, Ungleichgewicht und Dominanz einzelner Aspekte gegenüber der Harmonie des Ganzen führen, um den Ausgleich wiederherzustellen. Dabei wird auch den religiös-spirituellen Dimensionen größte Aufmerksamkeit zuteil, denn Krankheit wird häufig betrachtet als Störung des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst, zur Gesellschaft und zum göttlich bestimmten Universum. Heilung ist dann Wiederherstellung und Ausgleich des harmonischen Zustandes in allen diesen Dimensionen zugleich. Dabei kommt dem Heilenden (Arzt) als Mittler zwischen diesen Bereichen eine besondere Funktion zu, denn er kennt die verborgenen Gesetze der Balance und vermag sie zu repräsentieren und wiederherzustellen. Der Heiler hat nicht nur ein technisches Spezialwissen, um einzelne Störungen zu diagnostizieren, sondern er verfügt über Gesamtwissen, das einzelnen Systemen ihre Funktion im Ganzen zuschreiben kann, und so heilt er individuell, gesellschaftlich und spirituell zugleich, indem er das Ganze repräsentierend darstellt (durch Rituale, Trancen, theoretische Darstellungen) und Hinweise gibt, wie es im Falle von Störung wieder hergestellt werden kann. So ist es nicht verwunderlich, dass Buddha wie Jesus die Funktion des Arztes zugeschrieben wurde, weil sie physisch-spirituell zu heilen beanspruchten.

Dieses Wissen von teils manifesten, teils verborgenen Zusammenhängen ist das wesentliche medizinische Wissen in alten Kulturen, vom alten Griechenland bis Indien, Tibet und China. Der Kongress wird fragen, wie und ob dieses Wissen übersetzt werden kann in die Horizonte heutiger interkultureller Diskurse, die auch Wertefragen - und das heißt ganz zentral auch die Frage nach dem, was als gesund und als krank, als wünschenswert und vermeidungswürdig gilt - nicht ausklammern können. Wir werden die einzelnen Heilungssysteme nicht nur nebeneinander stellen und beschreiben, welche Prozedur für welches Gebrechen in welchem kulturellen Kontext angewendet wird, sondern wollen grundsätzlich fragen, wie Kulturen Gesundheit bestimmen und was die Parameter dafür sind, ausbalancierte Verhältnisse des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zur weiteren Ökosphäre, die universell-kosmisch oder religiös erfasst wird, herzustellen. Es geht darum, das Erfahrungswissen unterschiedlicher Kulturen aufeinander zu beziehen, um anthropologische Differenzen zu erkennen, die hilfreich sein können, nicht nur um kulturelle Muster zu erkennen, sondern auch um ein breites medizinisches Handlungswissen für neue Situationen des Menschen im Umgang mit sich selbst und seiner Umwelt zu gewinnen. Dabei müssen zunächst allgemeine Fragestellungen gefunden werden, die es erlauben, die sehr verschiedenen Anschauungen in den ethnisch geprägten Medizinsystemen aufeinander abzubilden, wobei das Verstehen von innen und das Verstehen von außen in ihrem Wechselverhältnis erfasst und füreinander fruchtbar gemacht werden können. Das medizinische Wissen und Urteilen betrifft alle Subsysteme einer Kultur, die individuellen Lebensziele ebenso wie die juristisch kodifizierten Wertvorstellungen über das Zusammenleben, Nahrungs- und Wirtschaftssysteme wie die religiösen Grundvorstellungen, die Programme zur Erziehung ebenso wie die Hoffnungsbilder über die Zusammenhänge von Leben und Tod.

Es geht nicht darum, ein einheitliches Menschenbild zu entwerfen und ein einheitliches Medizinsystem zu konzipieren, sondern die Relativität medizinischen Erkennens und Handeln im kulturellen Kontext zu erkennen, um neue Handlungsmöglichkeiten zu erschließen, die unter Umständen sehr alte sind, die in veränderten Kontexten neue Bedeutung gewinnen.

Von Michael von Brück